industrial

Zurück zu den Wurzeln!

Eine Hochpräzisionsmaschine von SIP aus dem Jahr 1928 ist in die Heimat zurückgekehrt

Im Jahr 1928 steuerten die wilden Zwanziger gerade auf ihren Höhepunkt zu und die Vereinigten Staaten erlebten wirtschaftlichen Wohlstand. Es war ein Jahrzehnt, in dem sich die Menschen gegen die Prohibition wehrten und völlig neue Kleidungs-, Musik- und Tanzstile entstanden. Im Zeitalter des Jazz tanzten Frauen in juwelenfarbenen Flapperkleidern und Männer in schwarzen, hochtaillierten Jacken den provokanten Charleston.

Ausserdem war es das Jahr, in dem eine ganz besondere optische Präzisionsmessmaschine auf einem Schiff aus Europa eintraf. Ihre neue Heimat war das Werk von General Electric in Lynn, Massachusetts, einer Stadt etwa 20 km nordöstlich von Boston. Es handelte sich um die MP4-Maschine von SIP mit der Seriennummer 88.

Die Société Genevoise d’Instruments de Physiques (SIP) war ein in der Schweiz ansässiger Hersteller von Geräten und Instrumenten für den Bereich Physik und Optik, der 2006 von Starrag übernommen wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts bauten die Ingenieure von SIP eine Vielzahl von Apparaten, darunter Kühlkompressoren und Teleskopmontierungen sowie andere wissenschaftliche Instrumente. Alle Produkte von SIP hatten drei Gemeinsamkeiten: Präzision, Qualität und Spezialisierung. Das Unternehmen zielte bei allem, was es schuf, in erster Linie auf eine möglichst hohe Präzision und Qualität ab.

Die MP4 von SIP aus dem Jahr 1928 mit der Seriennummer 88 wird seit 2020 im nordamerikanischen Hauptsitz von Starrag in Hebron, KY, ausgestellt.

“In all den Jahren, in denen ich die MP4 besass und sie zum Messen von Präzisionsoptik einsetzte, war ich immer wieder erstaunt über die erreichte Genauigkeit mit dieser Maschine aus dem Baujahr 1928, die nach den damaligen Fertigungsmethoden gebaut wurde.”

Robert Mathews, Gründer und Präsident von R. Mathews Optical Works

Die ersten von SIP gebauten Werkzeugmaschinen waren Gewindeschleifmaschinen. Das war im Jahr 1908. Die erste industrielle Werkzeugmaschine von SIP wurde im Jahr 1921 produziert. Obwohl SIP nur wenig Erfahrung mit Lehrenbohrwerk-Werkzeugmaschine hatte, ging die MP4 aus einer »machine à pointer«, also einer hochpräzisen Maschine hervor. Sie hatte eine Werkbank von 500 × 600 mm und war die erste Maschine von SIP, die ein Loch mit beispielloser Präzision lokalisieren und bohren konnte. Die MP4 wurde von 1921 bis 1929 hergestellt.

Die MP4 von SIP mit der Seriennummer 88 hat lange durchgehalten. Nach ihrer Zeit bei General Electric durchquerte sie im Jahr 2009 das Land, als Robert Mathews, Gründer und Präsident von R. Mathews Optical Works, Inc. mit Sitz in Poulsbo, Washington, die Maschine von einem Freund in Massachusetts erwarb. Vor dem Kauf nahm er Kontakt zu Starrag auf, um sich nach dem Ursprung, den Fähigkeiten und dem Nutzen des Geräts in der heutigen Zeit zu erkundigen.

Instand gesetzt und immer noch zuverlässig

R. Mathews Optical Works wurde 1978 mit dem Ziel gegründet, spezialisierte optische Komponenten in kleinen Mengen herzustellen. Das Unternehmen etablierte sich schnell als anerkannter Hersteller optischer Vorrichtungen mit unkonventionellem Design und entsprechend schwieriger Herstellung. R. Mathews Optical Works ist nach wie vor im Geschäft und kann mittlerweile auf eine traditionsreiche Geschichte zurückblicken. In den letzten vier Jahrzehnten hat sich das Unternehmen den Ruf erworben, ein Design vom Prototyp bis zur Produktion umsetzen zu können und sich dabei durch ein hohes Mass an Beständigkeit und Qualität auszuzeichnen.

»Damals wurde meine Firma gebeten, grössere asphärische Linsen mit einem Durchmesser von bis zu 300 mm sowie Spiegel für die gewerbliche und Luft-  und Raumfahrtfahrtindustrie herzustellen. Leider waren wir nicht in der Lage, Produkte mit ausreichender Genauigkeit zu messen, wenn deren Durchmesser über 200 mm hinausging«, sagte Mathews kürzlich in einem schriftlichen Interview über die MP4 von SIP. »Wir brauchten etwas, das wir leicht nachrüsten konnten und das die von unseren Kunden geforderte Messgenauigkeit ermöglichen würde. Gebrauchte CMM-Ausrüstung war zwar einigermassen erschwinglich, aber man wusste nie wirklich, woran man war. Ausserdem war ihre Nutzung mit hohen Kosten verbunden.«

Nach Erhalt der MP4 von SIP setzte Mathews die Maschine instand, um sie wieder in einen funktionsfähigen Zustand zu bringen. Er erkannte bald, dass sich die Zeit und die Mühe gelohnt hatten.

»Wir statteten die Spindel mit einem hochpräzisen elektronischen Heidenhain-Messtaster mit einem Verfahrweg von 60 mm aus und führten den Tisch über den gesamten Verfahrweg in X- und Y-Richtung mit einer Toleranz von weniger als 0,002 mm in beide Richtungen«, so Mathews. »Weitere Tests ergaben, dass die ursprünglichen kompensierten Leitspindeln eine Positionsgenauigkeit von 0,002 mm aufwiesen. Da wusste ich, dass ich mit dieser Maschine auf der richtigen Spur war.«

Alle Produkte von SIP hatten drei Gemeinsamkeiten: Präzision, Qualität und Spezialisierung

Nach der Reinigung, Grundierung, Lackierung und vollständigen Schmierung unterzog das Team von Mathews die Maschine einem ultimativen Test – und zwar unter Verwendung einer konvexen sphärischen Master-Glasoberfläche, die interferometrisch mit einer Wellengenauigkeit von ¼ und einem Durchmesser von 200 mm hergestellt und getestet wurde. Diese wurde mithilfe eines Präzisionsdrehtisches auf der Maschine zentriert. Anschliessend wurde sie auf der MP4 an vier verschiedenen Positionen gemessen, wobei eine volumetrische Genauigkeit von 0,001 bis 0,002 mm ermittelt wurde. Beim späteren Einsatz an realen Kundenteilen konnten die Teile dank dieser Genauigkeit bereits im Schleifstadium so genau gefertigt werden, dass die Komponenten bis zur Fertigstellung noch poliert und optisch geprüft werden konnten. »In den darauffolgenden Jahren kam die Maschine seltener zum Einsatz, sodass ich die starre Spindel löste und die Maschine wieder in ihren ursprünglichen Betriebszustand versetzte«, erklärte Mathews und fügte hinzu: »In all den Jahren, in denen ich die MP4 besass und sie zum Messen von Präzisionsoptik einsetzte, war ich immer wieder erstaunt über die erreichte Genauigkeit mit dieser Maschine aus dem Baujahr 1928, die nach den damaligen Fertigungsmethoden gebaut wurde.«

Anstatt sie zu entsorgen, bot Mathews die Maschine im Jahr 2019 Starrag an, dem technologisch weltweit führenden Hersteller von Präzisions-Werkzeugmaschinen zum Fräsen, Drehen, Bohren und Schleifen von Werkstücken aus Metall, Verbundwerkstoffen und Keramik. Auf diese Weise waren zwei erfolgreiche Unternehmen auf zwei Kontinenten, die beide den Ruf geniessen, Produkte von höchster Qualität für ihre Kunden herzustellen, durch eine Maschine miteinander verbunden.

Die MP4 von SIP mit der Seriennummer 88 ist jetzt wieder in ihrer Heimat und wird im nordamerikanischen Hauptsitz von Starrag in Hebron, KY, ausgestellt. Es könnte keinen besseren Ort dafür geben!