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125 Jahre Starrag in der Schweiz

Die Fräser vom Bodensee

Ohne sie würden viele Flugzeuge nicht starten, zahlreiche Kraftwerke nicht zuverlässig arbeiten und manches Schiff nicht fahren. Die Rede ist von Werkzeugmaschinen der Starrag Group aus Rorschacherberg. Sie kennen und schätzen nicht nur Flugzeughersteller, Schiffsbauer und Energieunternehmen aus der ganzen Welt, sondern Produktionsexperten fast aller Branchen. Erstaunlich, begann doch alles vor 125 Jahren mit einer automatischen Fädelmaschine für die Textilbranche.


Goldmedaille in Toulouse! Daran hatte der gelernte Kaufmann aus dem französischen Oberelsass sicherlich nicht einmal im Traum gedacht, als er noch Besitzern der weltberühmten Handstickereien des Kantons St. Gallen Maschinen verkauft hat. Von ihnen war der frisch eingebürgerte Schweizer Henri Levy fasziniert, ihn störte aber das mühsame manuelle Einfädeln, das meist Kinder übernehmen mussten: Der 27-jährige Verkaufsleiter übernahm 1897 eine Schlosserwerkstatt und avancierte zum Erfinder eines Fädelautomaten, den er mit seinen Mitarbeitern konstruierte und baute.

Die Idee kam an, sie sorgte für Aufsehen in der Textilbranche: Zehn Jahre später erhielt er für die Erfindung auf der internationalen Industrieausstellung in Toulouse eine Goldmedaille, kurz darauf verliess der 3.000. Fädelautomat die »Mech. Werkstätte Henri Levy Rorschach«. Es folgten weitere ähnlich erfolgreiche Textilmaschinen. Als aber kurze Zeit danach wegen der ständig sinkenden Nachfrage nach St. Galler Stickereien seinem Unternehmen das Aus drohte, stieg er auf Drehbänke und Tischfräsmaschinen um.

Aufstieg mit deutschem Erfinderduo

Die eigentliche Wende kam 1917 mit dem Besuch der deutschen Erfinder Oskar Hoppe und Richard A. Kempin, die ihm vorschlugen, testhalber eine Starr-Fräsmaschine mit geschlossenem Rahmen zu bauen, für das sie ein deutsches Patent besassen. Levy überzeugte die Konstruktion und bereits zwei Jahre später erwies sich die Erfindung als Blaupause für ein Erfolgsprodukt, mit dem die mittlerweile in Starrfräsmaschinen AG umbenannte Werkstätte vor allem die boomende Autoindustrie eroberte. Ein paar Jahre danach musste die Aktiengesellschaft, mittlerweile auf rund 400 Mitarbeitende angewachsen, in eine grössere Fabrik im benachbarten Rorschacherberg umziehen.

Die Starr-Fräsmaschine weist auf das Erfolgsrezept der heutigen Starrag Group hin: Die Schweizer Maschinenbauer wählten sehr sorgfältig ein Konstruktionsprinzip aus, das sie weiterentwickelten und solange verkauften, bis es durch eine bessere Neukonstruktion ersetzt wurde. 48 Jahre lang hielt das Unternehmen der Konstruktion des angestellten Erfinderduos die Treue, bis der Bau der Starr-Fräsmaschinen schliesslich 1967 eingestellt wurde.

Papa Levy: väterliche Sorge für Starrag-Mitarbeitende

Papa Levy, wie er liebevoll genannt wurde, vererbte seinen Nachkommen bei seinem Tod im Jahr 1947 ein Unternehmen, das nicht nur geschäftlich, sondern auch sozial vorbildlich war. In den 50 Jahren seit Firmengründung machte er seinem Spitznamen Papa alle Ehre: Er gründete 1903 (!) eine Betriebskrankenkasse, später folgten eine betriebseigene Fürsorgestiftung und Kollektivversicherung. Die soziale Einstellung übernahmen auch Nachfolger wie Jean Schaufelberger und Manfred Widmer, denen die Belegschaft unter anderem eine Kantine, eine Lehrlingswerkstatt und eine Maschinenzeichnerschule verdankte. 

Das Vierteljahrhundert nach Levys Tod führte in Rorschacherberg zu Innovationen, die den weiteren Geschäftserfolg nachhaltig prägten: 1956 startete Starrag mit dem Bau von Maschinen zum Fräsen von Turbinenschaufeln, die dem Unternehmen den Weg in die Luftfahrt- und Energiebranche ebneten. Gefragt ist bei Schaufeln für Flugzeugtriebwerke sowie Gas- und Dampfturbinen vor allem die Oberflächenqualität, die mit der Bearbeitungsgenauigkeit steht und fällt. Grund genug für die Schweizer, die Kopierfräsmaschinen seit 1961 mit NC-Magnetbandsteuerungen auszustatten, mit denen sich vor allem die Präzision beim Fräsen von Turbinenschaufeln noch weiter steigern liess.

Bewährung in der Ölkrise

Rund ein Jahrzehnt später erwiesen sich diese Investitionen als überlebenswichtig: Anfang der 1970er-Jahre bremste die erste Ölkrise viele exportorientierte Unternehmen wie Starrag aus, sie bekamen die im gerade veröffentlichten Report des Club of Rome beschriebenen »Grenzen des Wachstums« hautnah zu spüren. Doch Starrag sah Chancen für 5-Achs-NC-Werkzeugmaschinen, mit denen sich besonders nachhaltig und produktiv Bauteile in einer Aufspannung komplett herstellen lassen. Die Rede ist von der NB 125 D, die damals (1973!) bereits simultan in fünf Achsen fräsen konnte. Gefragt ist diese Komplexität speziell beim Fräsen von Impellern für Flugzeugtriebwerke und Turbomotoren.

Die Investition zahlte sich aus: Flugzeughersteller Rolls Royce und Construcciones Aeronáuticas orderten neue NC-Spezialmaschinen. Starrag gewann dank der Spezialisierung auch General Electric in Lynn im US-Bundesstaat Massachusetts und gründete zur besseren Betreuung der neuen US-amerikanischen Kundschaft eine eigene Tochtergesellschaft. Ein wesentlicher Schritt zur heutigen internationalen Firmengruppe mit Produktionsstandorten in der Schweiz, Deutschland, Frankreich, Grossbritannien und Indien sowie Vertriebs- und Servicegesellschaften in allen wichtigen Abnehmerländern.

Bewährungsprobe in den 1980er-Jahre

Es drohten auf dem Weg jedoch immer wieder Rückschläge, die Starrag stets mit Innovationskraft überwand. Die globale Rezession von 1982 mit ihren extrem steigenden Ölpreisen – einer Folge des Irankriegs – nutzten die Rorschacherberger zur Automatisierung. Sie verhielten sich ganz im Trend einer Zeit, die von der umfassenden Digitalisierung der Fabrik geprägt war: Der Begriff Computer Integrated Manufacturing (CIM) machte die Runde. Starrag nahm die Idee bei seinen neuen CNC-Bearbeitungszentren der neuen NX-Baureihe zum Fräsen von Impellern und Turbinenschaufeln auf, deren Nebenzeiten sich dank automatisiertem Handling und selbst entwickeltem Werkzeugsystem drastisch verkürzten. Als i-Tüpfelchen dieser CIM-Strategie erwies sich jedoch die selbst entwickelte Software – etwa für das sogenannte Sturzfräsen. Das clevere Zusammenspiel von Maschinen, Automatisierung und CAM-Software ergab bei den Kunden enorme Rationalisierungseffekte von 50 % und mehr.

Die Strategie unter dem neuen Direktor (1986) kam in der Kundschaft an: Etwa jede fünfte Maschine war bereits automatisiert und dank offener Steuerungssysteme in der Lage, sich mit anderen Fertigungssystemen zu vernetzen. Dies war die Basis für die späteren Flexiblen Fertigungssysteme, zu denen Starrag sogar selbst entwickelte Leitrechner liefert.

Ein Meilenstein in der Firmengeschichte ist der Einstieg von Walter Fust als Mehrheitsaktionär und Verwaltungsrat. Bereits als 18-jähriger Gymnasiast lernte er das Unternehmen hautnah kennen, als er auf Englisch einen Vortrag über Werkzeugmaschinen von Starrag und +GF+ hielt. Der Eindruck war sehr nachhaltig, denn nach der Matura studierte er an der ETH Zürich Maschinenbau, kaufte schon als Jungunternehmer in den 1970er-Jahren Starrag-Aktien und las regelmässig Geschäftsberichte. Ende der 1980er-Jahre erwarb er ein grösseres Aktienpaket, um aktiv mitzumachen. Der diplomierte Maschinenbauer fand ein Ingenieurunternehmen vor, »dem es immer wieder gelingt, sich wechselnden Marktbedingungen anzupassen«. Doch er kritisierte auch die technische Verliebtheit der Forschungsund Entwicklungsabteilung, die zu wenig am Markt orientiert war.

Mit Chemnitz fing es an

»Spielereien können wir uns nicht leisten«, lautete sein Grundsatz, trotzdem scheute der neue Präsident des Verwaltungsrates kein Risiko, wenn es »wohlüberlegt« war. Er kaufte 1998 die Heckert GmbH in Chemnitz, die in der DDR mit über 50.000 verkauften Werkzeugmaschinen zu den grössten Maschinenbau-Kombinaten zählte. Gemeinsam traten nun Rorschacherberg und Chemnitz unter dem neuen Firmennamen StarragHeckert an, um unter anderem mit einer gemeinsamen Plattformstrategie schneller, präziser und kostengünstiger zu produzieren. Im Nachhinein war es laut Fust eine goldrichtige Entscheidung.

Die nächsten Firmenübernahmen ging er ab 2005 gemeinsam mit dem neuen CEO an. Das Duo übernahm strategisch gezielt Spezialisten für Fertigungssoftware (TTL), Hochpräzisionsmessen (SIP), Drehen, Schleifen, Portal- und Hochgeschwindigkeitsbearbeiten (Dörries Scharmann mit Droop+Rein und Berthiez) sowie für hochpräzises Bearbeiten (Bumotec). »Alle Firmen fügten sich sehr gut in unsere Gesamtstrategie«, sagte Fust zufrieden in einem Interview mit dem Schweizer Journalisten Richard Lehner.

Es bildete sich unter dem neuen Firmennamen Starrag Group eine Unternehmensgruppe mit zehn Marken, deren Kunden für Branchen aller Art arbeiten. Auf Maschinen aus der Starrag Group entstehen zum Beispiel Bauteile für edle Luxusuhren, gigantische Antriebe für Windkraftanlagen, hochpräzise Chirurgieinstrumente oder auch die weltgrössten U-Boot-Propeller.

Fantasievoll gehts weiter

Ungewöhnlich ist auch die besondere Art, wie Starrag auf Krisen und Katastrophen reagiert, an denen in der 125-jährigen Firmengeschichte von Anfang an wahrlich kein Mangel herrschte. So konnte das Unternehmen im Weltkriegsjahr 1914 überleben, weil Firmengründer Henri Levy die mangelnde Nachfrage nach Strickmaschinen durch den Bau von Zigarettenautomaten und Maschinen zum Entsteinen von Kirschen teilweise kompensierte. Ebenso fantasievoll reagierte aktuell das Unternehmen auf die Folgen der Pandemie und des Russland-Ukraine-Kriegs.

Ein Beispiel von vielen faszinierte Starrag- CEO Dr. Christian Walti so, dass er es im Editorial des Kundenmagazins Star 01-2022 erwähnte: »Eine ganz andere Art von Teamzusammenarbeit war im französischen Saint-Étienne bei Starrag S.A.S. gefragt, die im fernen China eine zerlegte Berthiez-Schleifmaschine montieren und termingerecht in Betrieb nehmen mussten. Wegen des coronabedingten Einreiseverbots übernahm Starrag China den Auftrag – unter fachlicher Fernbetreuung der französischen Schleifexperten.« Der Umgang mit dem strengen Einreiseverbot kam beim Kunden, einem Weltkonzern, gut an und führte zu vielen weiteren neuen Aufträgen. Dieser für Starrag typische Teamgeist und seine Folgen hätten sicherlich Firmengründer Henri Levy genauso erfreut wie seine erste Goldmedaille.